- Sowjetunion: »Aufbau des Sozialismus in einem Land«
- Sowjetunion: »Aufbau des Sozialismus in einem Land«Die Debatten der politischen Führung drehten sich nicht nur um die Partei; der Zustand von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Frage nach der weiteren Entwicklung waren kaum weniger schwierig. Außerdem sorgte die außenpolitische Lage für anhaltende Irritationen. Das betraf nicht nur die Spannungen mit Großbritannien; noch schwerer wog, dass die Hoffnungen auf den baldigen Ausbruch der Weltrevolution mehr und mehr zerrannen. Vor allem in Westeuropa waren ab Mitte der 20er-Jahre eher Tendenzen der Stabilisierung als des »Heranreifens einer revolutionären Situation« zu beobachten.»Permanente Revolution« oder »Aufbau des Sozialismus in einem Land« - Kontroverse gesellschaftliche KonzepteDie Parteiführung beharrte seit 1925 darauf, dass »der Sozialismus« zunächst auch nur »in einem Land aufgebaut« werden könne. Doch ihre »linken« Kritiker, deren politischer Kopf Leo Trotzkij und deren bekanntester Wirtschaftstheoretiker J. Preobraschenskij waren, wiesen darauf hin, wie schwach die Basis für ein sozialistisches System in Russland immer noch war. Zwar kontrollierte die regierende sozialistische Partei nicht nur die Räte, sondern auch die Banken sowie die große und die mittlere Industrie; auch hatte man die Produktionszahlen der Vorkriegszeit wieder erreicht. Aber am »Entwicklungsstand der Produktivkräfte« hatte sich, verglichen mit der vorrevolutionären Zeit, bisher wenig geändert: Russlands Wirtschaftsstruktur wurde weiterhin von der gewerblichen und agrarischen Kleinproduktion geprägt und beide waren privatwirtschaftlich organisiert.Im Handwerk und im Kleingewerbe umfasste der Anteil von staatlichen und genossenschaftlichen Betrieben am Produktionsvolumen kaum mehr als 20 Prozent, in der Landwirtschaft entfielen auf neue Kollektivwirtschaften 1927 nicht mehr als 2 Prozent der Nutzfläche. Über 95 Prozent des Bodens nutzten dagegen die traditionellen Landgemeinden, mir oder obschtschina genannt, die gemeinschaftlich über ihn verfügten und den einzelnen Höfen ihre Anteile - meist nach der Größe der Familie - zuwiesen. Die Entscheidung darüber fiel in der Dorfversammlung, dem schod. Zwar gab es auf dem Lande auch Sowjets, aber längst nicht in jeder Landgemeinde, und sie taten sich sichtlich schwer, die gleiche Bedeutung wie die Dorfversammlungen zu erlangen und den Staat im Dorf zu repräsentieren. Noch dünner als die Dorfsowjets waren die ländlichen Parteizellen gesät: Im Durchschnitt kam nur auf jede sechste Siedlung ein Sowjet, auf jeden vierten Sowjet eine Parteizelle, knapp 90 Prozent der Dorfratsmitglieder waren parteilos.Berücksichtigt man, dass die staatlichen Großunternehmen nur kleine Inseln in einem Meer von privaten Zwergbetrieben waren und drei Viertel der Bevölkerung noch immer auf dem Lande lebten, so offenbart sich die strukturelle Schwäche von Partei und Staat. Sie konnte aus Sicht der »Parteilinken« nur überwunden werden, wenn die revolutionäre Tätigkeit im Westen wieder aufgenommen wurde und im Innern die Arbeiterschaft aufhörte, eine Minderheit zu sein, mit anderen Worten: Der Staat musste nach außen seine Vereinzelung, im Innern seine »Rückständigkeit« überwinden und die industrielle Entwicklung forcieren. Finanzieren ließ sich das ihrer Überzeugung nach nur, wenn der Staat »Kapitalakkumulation auf Kosten der Bauernschaft« betrieb und »produktive Ressourcen« aus dem bäuerlich-privaten in den industriell-staatlichen Sektor überführte, indem er die Industriepreise anhob und die Steuerlast, vor allem für die reicheren bäuerlichen Schichten, die »Kulaken«, erhöhte.Aus Sicht der »Linken« sollten mit einer solchen Strategie drei Ziele auf einmal erreicht werden: Davon überzeugt, dass sich der Aufbau des Sozialismus in der Atempause zwischen zwei Schlachten vollzog, wollte man zum einen die Verteidigungsfähigkeit der Sowjetunion steigern. Zum zweiten beabsichtigte man die Staatsindustrie und mit ihr die Arbeiterschaft gegenüber dem Privatsektor und mit ihm die Bauernwirtschaft zu stärken. Zum dritten sah man nur diesen Weg, um das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen und somit vor allem die enorme, versteckte Arbeitslosigkeit auf dem Lande zu beseitigen.Während im »linken« und »rechten« Spektrum der Partei Einigkeit darüber herrschte, dass die Überwindung der Rückständigkeit und die Industrialisierung des Landes für die Absicherung der Macht und die weitere Entwicklung des Sozialismus unabdingbar waren, so gingen die Auffassungen, wie dieses Ziel zu erreichen war, auseinander. Der prominenteste Vertreter der »Rechten«, Nikolaj Iwanowitsch Bucharin, warnte vor der Strategie der »Linken«, da sie unweigerlich das von Lenin 1921 proklamierte »Klassenbündnisses zwischen Arbeitern und Bauernschaft« sprengen würde.Aus Sicht der »Rechten« waren die »linken« Vorschläge aber auch ökonomisch unsinnig. Wie die Versuche und Erfahrungen in der Zeit des Kriegskommunismus gezeigt hätten, sei mit Zwang und Restriktionen, Steuerdruck und Anhebung der Industriepreise nur eine Umverteilung des Mangels, keine Belebung der Gesamtwirtschaft möglich; Wirtschaftswachstum sei nur mit materiellen Anreizen, mit moderaten Industriepreisen und über eine florierende Landwirtschaft zu erreichen. Nur wenn es sich für ihn lohne, werde der Bauer mehr produzieren, seine Produktionsmethoden zu verbessern suchen, landwirtschaftliche Maschinen und Düngemittel nachfragen; dieses Mehrprodukt und die gesteigerte Nachfrage kämen allen, und nicht zuletzt der sozialistischen Großindustrie, die die Maschinen und Düngemittel herstellte, zugute. So stelle der sowjetische Staat, wenn er den Bauern, Kleinproduzenten und selbst der Bourgeoisie mehr Freiheit gewährte, diese »objektiv in den Dienst der Staatsindustrie, des Sozialismus«. In diesem Sinne ist auch Bucharins an die Bauern gerichtete Aufforderung »Bereichert Euch« zu verstehen.Stalins Kampf um die alleinige MachtStalin lavierte geschickt zwischen diesen beiden Positionen und benutzte sie zugleich, um die eigene Macht auszubauen und zu festigen. Um die Mitte der Zwanzigerjahre, als die »Neue Ökonomische Politik« Hunger und Not überwinden half und damit nicht unwesentlich zur Entspannung und Konsolidierung der Lage im Innern beitrug, verteidigte sie Stalingegen die Angriffe von »links«. Der 14. Parteitag bestätigte im Dezember 1925 die Position des Generalsekretärs. Da die »linke« Opposition ihre Angriffe jedoch fortsetzte, warf ihr die Parteiführung »spalterische Tendenzen und Fraktionsbildung« vor und erreichte 1926 ihren Ausschluss aus dem Politbüro; ihm folgte 1927 die Verdrängung aus dem Zentralkomitee und schließlich der Parteiausschluss.Der nachfolgende 15. Parteitag bestätigte im Dezember 1927 diese Entscheidungen und billigte die Richtlinien eines 1. Fünfjahrplans, wonach die Industrialisierung zwar forciert, aber zugleich auf ein »dynamisches Gleichgewicht« von Industrie- und Agrarsektor, Investitions- und Konsuminteressen, Stadt und Land geachtet werden sollte. Selbst wenn man von einer »Bekämpfung kulakischer Tendenzen« und der »Förderung von Produktionsgenossenschaften« im Dorf sprach, lehnte man die von den »Linken« geforderte generelle Anhebung der Industriepreise ebenso ab wie eine Erhöhung der bäuerlichen Steuerbelasung. Doch als wenig später Engpässe in der staalichen Getreidebeschaffung die Versorgung der Städte beeinträchtigten und die eingeplanten Exportraten bedrohten, demonstrierte die politische Führung Härte: Stalin kündigte »außerordentliche Maßnahmen« an, um die Engpässe zu beseitigen. Mit aller Schärfe sollte gegen die »getreidehortenden Kulaken» im lokalen, gegen das »Spekulantentum« privater Zwischenhändler und gegen »Kulakenfreunde« im lokalen und regionalen Sowjetapparat vorgegangen werden. Fliegende Abteilungen der GPU, von Staatsanwälten und Richtern vollzogen diese Anweisungen. Die Bauern antworteten mit massivem Widerstand. Binnen weniger Wochen waren die bürgerkriegsähnlichen Zustände ins Dorf zurückgekehrt, die mühsam geflickte Vertrauensbasis des Regimes zerstört.Zwar kündigte das Zentralkomitee im Juli 1928 offiziell die Aufhebung der »außerordentlichen Maßnahmen« an; aber nach einer nur mäßigen Ernte kehrte man im nächsten Winter 1928/29 zu »Sondermaßnahmen« zurück. Sie richteten sich vor allem gegen die Reicheren im Dorf, auf die ein Großteil der Ablieferungsquoten abgewälzt werden konnte. Widersetzten sie sich, drohten ihnen Strafen bis zum Fünffachen des Gegenwertes, die den Ruin des Hofes bedeuten konnten. Einschüchterung, Zwang und Gewalt waren erneut an der Tagesordnung. Die Betroffenen leisteten gegen die Konfiskationen erbitterten Widerstand, vernichteten Getreide oder verfütterten es an die Schweine. Lokale Aufstände demonstrierten die dörfliche Solidarität gegenüber dem staatlichen Zugriff.Nun brach die Partei auch offiziell mit den »Rechten«; das Plenum des Zentralkomitees verurteilte im April 1929 ihre Ansichten als »Abweichung«, im Sommer musste Bucharin seinen Posten bei der Kominternführung räumen, wenig später konnte man in der Parteizeitung seinen »Widerruf« lesen. Da auch die folgende Ernte ungünstig ausfiel, blieben die Zwangsmaßnahmen bestehen; der Staat hatte in den Getreide produzierenden Gouvernements wieder die Ablieferungspflicht wie in der Zeit des Kriegskommunismus eingeführt.Diktatur von Willkür und Plan - Die »Liquidierung des Kulakentums« und forcierter Aufbau der IndustrieSeit Mitte des Jahres 1929 ging Stalin von der »Liquidierung der Kulaken als Klasse« zur forcierten Kollektivierung, der Zusammenfassung der bäuerlichen Höfe zu großen Produktionsgenossenschaften über. Nach Lesart der Parteipresse traten die Bauern den Genossenschaften freiwillig bei, meist blieb ihnen aber keine andere Wahl. Wer sich sträubte, geriet rasch in den Verdacht, zu den »kulakischen Elementen« im Dorf zu gehören. Auf sie wartete die Deportation. Zur Unterstützung der lokalen und regionalen Sowjetorgane wurden bewaffnete Arbeiterbrigaden, Abteilungen des Jugendverbandes der KPdSU, des Komsomol, und Soldaten der Roten Armee in die Dörfer geschickt. Sie sorgten dafür, dass die Dorfversammlungen die »richtige« Entscheidung trafen; siw versuchten - oft vergeblich - zu verhindern, dass die Bauern ihr Vieh abschlachteten, bevor sie ihren Hof in den Kolchos einbrachten; sie »isolierten« die »kulakischen Elemente« und deren »Helfershelfer« und wirkten bei ihrer Deportation mit.Hatte die Statistik Anfang Juli 1929 nur 3,9 Prozent »kollektivierte bäuerliche Haushalte« ausgewiesen, so hatte sich ihr Anteil drei Monate später schon fast verdoppelt und zum 1. März 1930 bereits die Fünfzigprozentmarke überschritten. Von einem »planmäßigen Übergang« konnte längst nicht mehr die Rede sein, die Lage auf dem Dorf war nur noch als chaotisch zu bezeichnen und die Aussaat im Frühjahr höchst gefährdet; deshalb entschloss sich die politische Führung, das Tempo vorübergehend zu drosseln. Doch im Herbst begannen die Kampagnen erneut. Die Folgen sollten nicht ausbleiben: Die politische Führung manövrierte das Land in eine Hungerkatastrophe, die nach Schätzungen zwischen fünf und neun Millionen Menschen das Leben kostete.Auch diese Opfer vermochten die politische Führung nicht zu einem Kurswechsel zu bewegen. Bis Mitte der 30er-Jahre werden über 80 Prozent, am Ende des Jahrzehnts weit über 90 Prozent der Bauernhöfe kollektiviert und die Dorfversammlungen entmachtet sein. Nun bestimmte die Führung, was laut »Plan« im Dorf produziert und an den Staat abgeliefert werden musste. Dabei war »Planung« längst nicht mehr die Kalkulierung und Durchsetzung des Möglichen. Sie war in einen Taumel des Aktionismus übergegangen, bei dem - in einer Mischung aus Massenpropaganda und Zwang - das Unmögliche möglich gemacht werden sollte.Der 1. Fünfjahrplaner Ende 1927 beschlossene Grundsatz, die Industrialisierung unter gleichmäßiger Berücksichtigung von Investitions- und Konsuminteressen voranzutreiben, wurde bereits im folgenden Jahr aufgegeben; nun stand eindeutig die Schwerindustrie im Mittelpunkt aller Überlegungen. Die Zielsetzungen der Gremien, die den 1. Fünfjahrplan erstellten, der Oberste Volkswirtschaftsrat und das Staatliche Plankomitee, waren kühn und optimistisch zugleich. Die politische Führung überbot deren Eifer noch, indem sie die nur unter bestimmten, besonders günstigen Bedingungen erreichbare »Optimalvariante« zur Planvorgabe erklärte. 1929 gab sie schließlich die Parole aus, diese Ziele seien nicht erst in fünf, sondern bereits in vier Jahren zu erreichen.Gigantisch waren nicht nur die vorgesehenen Wachstumsraten, gigantisch waren auch die Einzelprojekte. So sollte, um einige typische Beispiele zu nennen, am Dnjepr das »größte Wasserkraftwerk der Welt« entstehen, in Westsibirien ein ganz neues, zweites schwerindustrielles Zentrum aus dem Boden gestampft werden und eine neue zweieinhalbtausend Kilometer lange Eisenbahnstrecke Sibirien mit Turkestan verbinden. Ebenso gigantisch wie die Projekte waren auch die veröffentlichten Erfolgszahlen, die - teils in Tonnenangaben, teils in Preisen - von enormen Zuwächsen beim schwerindustriellen Output, bei Kohle, Stahl und Eisen, bei Traktoren, metallurgischem Gerät, Werkzeugmaschinen und Turbinen berichteten.Das war nicht nur Propaganda; denn tatsächlich wurden - im Energiesektor und bei gewissen Investitionsgütern - beeindruckende Produktionszuwächse erzielt. Doch daran den »Erfolg« der neuen Wirtschaftspolitik demonstrieren zu wollen, führt grob in die Irre. Die Reduktion der ökonomischen Bilanz auf die Erfolge der sozialistischen Großindustrie unterschlug, welche Schäden und Verluste der »Kampf gegen die NEP-Profiteure«, die Zerschlagung des Handwerks und der privaten Kleinindustrie für die Volkswirtschaft mit sich brachten. Sie blendete erst recht die enormen sozialen Kosten aus, mit denen die schwerindustriellen Erfolge erkauft wurden. Die Statistiken verschwiegen, dass die Ergebnisse hinter den Planvorgaben mitunter erheblich zurückblieben; sie sagten auch nichts über die Engpässe, die das ungleiche Wachstum, selbst im Bereich der Schwerindustrie, verursachte.Prof. Dr. Helmut AltrichterWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Sowjetunion: »Neue Ökonomische Politik« (NEP)Grundlegende Informationen finden Sie unter:Sowjetunion: Stalinistischer Staat und Stalins persönliche Diktatur.Rußland unter Hammer und Sichel. Die Sowjetunion 1917-1967, bearbeitet von Gert Richter. Gütersloh 1967.Solschenizyn, Alexander: Der Archipel GULAG, übersetzt von Anna Peturnig und Ernst Walter. Lizenzausgabe Reinbek 1994.Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, herausgegeben von Helmut Altrichter und Heiko Haumann. 2 Bände. München 1986-87.
Universal-Lexikon. 2012.